Eine Kerze vor schwarzem Grund leuchtet ins Dunkel

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Nachruf

Gertraude Schulte-Kersmecke

von Birgit Thiersch

Gertraude Schulte-Kersmecke wurde am 8. Dezember 1936 in Dortmund geboren.

Ihre Eltern gehörten der Wandervogelbewegung an und so umgab sie das musikalische Element wohl schon von Kindesbeinen an. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern.

Dortmund, als Industrie und Rüstungsstadt wurde im 2. Weltkrieg ein häufiges Ziel von Luftangriffen, darunter zahlreiche Großangriffe.

Damals gab es die „Kinderlandverschickung“, wo Kinder, zu ihrem Schutz und zur Erholung in ländlichen Regionen untergebracht wurden - klassikal oder in Familien. Dies war wohl der Grund, warum Traudel schon im Kindedsalter von ihren Eltern auf einen großen Bauernhof gebracht wurde. Der Hof der Familie Schulte-Kersmecke in dem Ort Kersmecke im Sauerland, lag nahe bei Dortmund. Der Kontakt zu diesem Hof, war über Bekannte vermittelt worden, möglicherweise über die Verbindung der Eltern zur Wandervogelbewegung und/oder anthroposophischem Umfeld. Es war kein Demeter-Hof, aber es gab offensichtlich verschiedene Familienmitglieder und Anwohner:innen, die der Anthroposophie verbunden waren. Hier verbrachte Traudel behütete und schöne Kindheitstage, wie sie selbst beschrieb, hatte lebensentscheidende Begegnungen und gewann richtungsweisende Impulse.

Sie selbst äußerte im Alter einmal, dass sie ihre Kindheit sicher behütet und beschützt erlebt habe und weitestgehend verschont blieb von den Schrecken der Kriegszeit. So gab es z.B. auch eine Frau, die im Zusammenhang des Hofes in einem Häuschen wohnte, von der Traudel damals einiges an waldorfpädagogischen Inhalten aufnehmen durfte.

Nach dem Krieg, 1947, kam Traudel an die ein Jahr zuvor, als erste Waldorfschule in NRW gegründete Schule in Wuppertal. Sie lebte als „Pflegekind“ mit bei Familie Klipstein. Der Vater war Klassenlehrer der Gründungszeit an dieser Schule. Und nun hatte sie zwei Brüder, mit denen sie zeitlebens in einem schönen Kontakt stand.

Ihr leiblicher Vater kam nach Kriegsende auf tragische Weise noch bei einem Schusswechsel ums Leben. Sie war aber wochenends und in den Ferien bei ihrer Mutter, die in Dortmund lebte und arbeitete.

Ihren späteren Ehemann, Walter Schulte-Kersmecke hatte Traudel also in ihrer Kindheit auf dem Hof Kersmecke kennengelernt und später war auch er Schüler an der Wuppertaler Waldorfschule.

In der Schule entwickelte Traudel vielseitige künstlerische Begabungen und so war die Mutter zunächst nicht glücklich darüber, dass ihre Tochter den Wunsch hatte eine landwirtschaftliche Ausbildung zu machen. Mindestens das Abitur sollte sie machen und das hat Traudel dann auch getan. Sogleich nach der Schule erfolgte aber die Verlobung mit Walter Schulte-Kersmecke und der Beginn ihrer Ausbildung zur landwirtschaftlichen Hauswirtschaft, wie es damals für Frauen hieß. Sie lernte auf einem Hof in NRW (Bokeloh) und auf Hof Wörme am Nordrand der Lüneburger Heide.

Eigentlich wollten Walter und Traudel gemeinsam mit Walters Bruder die Landwirtschaft auf dem Hof in Kersmecke übernehmen. Es gab jedoch Unstimmigkeiten zwischen den Brüdern. So kamen sie nach Norddeutschland bei Bremen, wo sie über einen Umweg auf einem Hof in Trupe/ Lilienthal, in Eickedorf/Grasberg zwischen Worpswede und Fischerhude landeten.

Von 1962 bis in die ersten 2000er Jahre haben sie diesen Hof nach Demeter-Richtlinien geführt. Auch wenn die Landwirtschaft bei der geringen Hoffläche nicht die alleinige Tätigkeit und Unterhaltsquelle der Familie war, waren Traudel und Walter sehr engagiert in der Demeter-Bewegung. Sie waren in einem Lesekreis mit Demeter-Bauern (u.a. Lütjen, Lohmann, Hundt) in der Umgebung tätig, der bis die Mitglieder schon im hohen Alter waren, fortgeführt wurde. Erst als die meisten schon verstorben waren und das Autofahren nicht mehr ging, wurde er beendet. Auch der zu dieser Zeit übliche LeMiMo wurde während der heiligen Nächte gerne in Eickedorf abgehalten und mit von Traudel zahlreich selbstgebackenen Lebkuchen versorgt.

 

Sechs eigene und eine Anzahl Pflegekinder wuchsen auf dem Hof auf und es wurde ein reiches Kulturleben entfaltet.

„Legendär“ waren wohl die Weihnachtsspiele, die alljährlich im Stall aufgeführt wurden, der in diesem alten niedersächsischen Bauerhaus im Wohnhaus integriert war. Die Kühe standen rechts und links in Anbindehaltung, wie damals üblich, Bühne und Publikum auf der Diele und alles war von Kerzenlicht erleuchtet. Spieler:innen waren die Mitglieder der großen Hofgemeinschaft, Walter, Traudel, Kinder, Pflegekinder und Freunde. Walter und Traudel waren vielseitig im Einsatz: Rollen, Regie, Musik. Walter spielte auch Cello und insgesamt war die Musik ein verbindendes Element auf dem Hof, besonders in der Weihnachtszeit. Die Spiele waren auch ein pädagogisch-therapeutisches Element im Zusammenleben mit den Kindern und Pflegekindern.

Traudel sprach einmal davon, dass es ihr selbstverständlich und wichtig war, etwas von der in ihrer eigenen Kindheit erfahrenen Geborgenheit in Pflegefamiliensituationen, später weiter und wie zurückzugeben an andere bedürftige Pflegekinder. Stets kümmerte sie sich um andere Menschen - seien es Jugendliche oder später die an Demenz erkrankte ehemalige Lehrerin und Kollegin beim Puppenspiel an der Waldorfschule in Ottersberg. Auch als sie schon im Ruhestand war, lud sie regelmäßig ihr Patenkind mit Downsyndrom ein und engagierte sich für ehemalige Pflegekinder, die jetzt im Umfeld lebten. Bis ins hohe Alter blieb sie dieser Lebenshaltung treu und hat sich gerne noch um einzelne Bewohner:innen mit Hilfebedarf mitgekümmert, in dem sie abends miteinander Spiele spielten, puzzelten oder dergleichen.

So konnte Traudel die in der Kindheit empfangenen Impulse miteinander verbinden und segensreich für ihr Umfeld, für die Welt, entwickeln und entfalten.

 

Walter und Traudel haben sich sehr bemüht sich in die landwirtschaftlich - nachbarschaftlichen Verhältnisse des Dorfes Eickedorf einzubringen und zu integrieren. Nach anfänglicher Distanz waren sie dann am Ende auch in der Dorfgemeinschaft voll integriert. Sie sangen im Kirchenchor und waren in den achtziger Jahren in der Grasberger Friedensbewegung initiativ.

 

In dem genannten Lesekreis wurde eines Tages vom "Verein Rudolf Steiner Stiftung für die Landwirtschaft" berichtet, in dem Höfe zusammengeschlossen sind, die den Besitz aus dem Familienerbstrom herausgenommen haben, um ihn in seiner Ganzheit für spätere Bewirtschafter zu erhalten. Gemäß einem Gedanken Rudolf Steiners: Erde, Grund und Boden, sollten eigentlich kein Besitz sein, an dem man sich bereichert, sondern sie sollten dem nur zustehen, der sie verantwortlich und initiativ bewirtschaftet und pflegt.

Insbesondere, dass mit dem Eigentum von Grund und Boden wirtschaftliche Spekulationen aus Gewinnbestrebungen betrieben werden und in kein verbindliches und verantwortliches Verhältnis zu dem Land getreten wird, ist in den Maximen des Vereins ausgeschlossen.

Auch kann ein Hof so in seiner Gänze erhalten werden, ohne durch erbliche Aufteilungen zerstückelt zu werden oder zu Erbstreitigkeiten zu führen, wie es nicht selten der Fall ist und im Schicksal von Traudel und Walter sich ja auch nicht wenig leidvoll abgezeichnet hatte.

Wie Traudel berichtete, waren Walter und sie sich im selben Moment, als sie davon hörten, ohne Absprache einig, dass sie so das Fortleben ihres Hofes sichern wollten. So wurde das Anwesen 1987, mit einer Anzahl von beteiligten Menschen als Zeugen und Hofpaten, in einem feierlichen Beschluss an den Verein übergeben.

Als sie in den Ruhestand übergehen wollten, gab es viele Gespräche und verschiedene Versuche herauszufinden, von wem der Hof in diesem Sinne, weitergeführt und entwickelt werden könnte.

Bei einer Veranstaltung in Ottersberg, wo sich anthroposophische Initiativen des Umfeldes von Ottersberg vorstellten und kennenlernen konnten, trafen Walter und Traudel auf Menschen des Umkreis e.V. - Verein für soziale Hilfen, der es ich zur Aufgabe gemacht hatte individuelle Lebens- und Arbeitssituationen für Menschen mit unterschiedlichem Hilfebedarf zu finden, kreieren und aufzubauen und dabei ein guter und professioneller Verhandlungspartner mit den Behörden sein konnte. Es war ein gegenseitig freudiges und fruchtbares Zusammentreffen und Traudel und Walter hätten sich gewünscht, dass dieses schon Jahre zuvor hätte stattfinden können.

Im Jahr 2005 konnten schließlich, durch Vermittlung des Umkreis e.V., Birgit und Sinclair Thiersch die Bewirtschaftung und Weiterentwicklung des Hofes übernehmen. Sie waren zu dieser Zeit auf der Suche nach einem Ort, wo sich landwirtschaftliche und soziale Impulse ihrer Situation gemäß verwirklichen ließen: sie hatten eine gerade 3 Monate alte Tochter und pflegten eine erwachsene Frau mit Behinderung.

So konnte die Bewirtschaftung des Hofes und die sozialen Impulse, die am Ort lebten, nun auf neue Weise, vereint mit kulturell- künstlerischen Initiativen, fortgesetzt werden. Dies geschah in enger Zusammenarbeit mit dem Umkreis e.V., insbesondere Roland Wiese, Martina Rasch (heute Fachstelle Maßstab Mensch).

Auch in dieser Zeit spielte Traudel weiterhin eine wichtige Rolle, nicht nur als Altbäuerin, die sich gerne noch einbrachte, wo sie nur konnte (einkochen, backen, nähen und dergleichen), sondern auch als „Hofoma“ für alle kleinen und großen Menschen, die gerne zu ihr kamen. Birgit Thiersch organisierte viele künstlerische Epochen für alle Bewohner des Hofes mit Malen, Plastizieren und Musizieren und auch eine ganze Zeit lang öffentliche Wochenendseminare mit Ingeborg Woitsch zum Künstlerischen und Biografischen Schreiben (bevor diese sich auch auf die Schreibwerkstätten für Menschen mit Hilfebedarf spezialisiert hatte). Hier konnte Traudel auch noch einmal ihre künstlerische Ader hervortreten lassen und weiter schulen und bereicherte die Kurse sehr mit Ihrem Können auf den verschiedensten Ebenen.

Ebenso an geisteswissenschaftlicher Arbeit, die immer wieder am Ort gepflegt wurde, anfangs im Zusammenhang mit Menschen des Umkreis e.V. in größerem Rahmen, aber auch später in kleineren Lesekreisgruppen, nahm Traudel aktiv teil.

 

Gerade in der allerletzten Zeit, war es immer etwas Besonderes, wenn man zu Traudel ins Wohnzimmer trat und plötzlich aufgenommen war in einem wie zeitlosen Raum. Es konnten tiefe Gespräche entstehen von Lebensfragen bis hin zu religiösen Themen, Fragen zum Leben nach dem Tode, an denen sie auch individuell vertiefend gearbeitet hatte und ganz eingetaucht war.

 

Die Landwirtschaft am Eickedorfer Hof ist heute nun bereits an eine weitere Generation, Nils und Rebecca Henken weitergegeben worden, die jetzt wiederum ihre Impulse, in Form einer solidarischen Landwirtschaft einbringen. Zusammen mit dem Sozial- und Kulturimpuls von Sinclair und Birgit Thiersch/Umkreis e.V., entwickelt sich der Hof hoffentlich auch in der Zukunft weiter zu einem blühenden Ort menschlichen Zusammenlebens im Zusammenhang einer Demeter Landwirtschaft.

Insgesamt kann gesagt werden, dass so die Impulse, die Traudel und Walter gesetzt hatten, in fruchtbarer Art weiter gedeihen, obwohl jeder der Bewirtschafter sich selbst individuell verwirklichen konnte/kann.

 

Traudel konnte bis zu ihrem Ableben am 13. November 2022 (Walter verstarb im Jahr 2004) einen ruhigen und erfüllten Lebensabend in ihrem vor 60 Jahren begründeten Heimatort genießen.

 

 

Eickedorf 22. Januar 2023

Birgit Thiersch